Mara stand in der großen, leeren Halle und betrachtete das massive Holzwerk, das vor ihr aufragte.

Es schien, als wäre es ein Teil der Erde selbst, herausgeschnitten und in die Welt gebracht, um eine Botschaft zu übermitteln. Die gealterten Bretter, auf denen die Zeit ihre Spuren hinterlassen hatte, strahlten eine stille Autorität aus.

Sie fühlte sich klein, aber nicht unbedeutend, eher wie jemand, der vor etwas Größerem stand, etwas, das sie tief im Inneren berührte.

 

Mara hatte viele Jahre damit verbracht, auf der Suche zu sein. Nach einer Antwort, nach einer Richtung. Sie war durch Städte gewandert, hatte Beziehungen begonnen und beendet, Berufe ausprobiert, ohne je das Gefühl zu haben, wirklich irgendwohin zu gehören. Doch dieses Kunstwerk, diese schroffe Struktur aus Holz, schien sie anzusprechen, als ob es eine Antwort für sie hätte.

„Einhalt“, flüsterte sie, als der Titel des Werkes in ihrem Kopf widerhallte. Es bedeutete mehr als nur einen Stillstand oder eine Pause. Es sprach von dem Moment, in dem man innehält, nicht nur um zu reflektieren, sondern um Entscheidungen zu treffen.

 

Mara erinnerte sich an ihre Großmutter, die einst in einem kleinen Haus am Waldrand gelebt hatte. Das Haus war aus altem Holz gebaut, das Geschichten erzählte – Geschichten von Regen, Sonne und Wind, die Jahr für Jahr die Oberfläche geprägt hatten. Sie hatte als Kind oft in diesem Haus gesessen, den Knarren der Dielen gelauscht und sich in der Wärme des Kaminfeuers sicher gefühlt. Ihre Großmutter hatte immer gesagt: „Holz lebt, Mara. Es speichert Erinnerungen.“

Nun, Jahrzehnte später, schien dieses Werk vor ihr all die Erinnerungen hervorzurufen, die sie in sich verschlossen hatte. Die Holzbretter, in einem strengen Muster angeordnet, symbolisierten die Ordnung, nach der sie immer gesucht hatte. Doch ihre raue, unperfekte Beschaffenheit erinnerte sie daran, dass wahre Struktur niemals vollkommen ist.

 

Perfektion war eine Illusion.

 

Plötzlich sah sie es klar vor sich. Das, wonach sie suchte, war nicht die eine, richtige Struktur. Es ging darum, inmitten der Ordnung die Freiheit zu finden, Fehler zu machen, neue Wege zu gehen, sich zu verändern. Einhalt bedeutete nicht Stillstand, sondern innezuhalten, um zu erkennen, wo man steht und wo man hingehen will.

Mara legte ihre Hand auf das raue Holz und schloss die Augen. Die Kühle des Materials und die Unebenheiten unter ihren Fingern waren beruhigend, als würde das Werk ihr bestätigen, dass es in Ordnung war, so zu sein, wie sie war – mit all ihren Unvollkommenheiten. Sie atmete tief ein und wusste, dass sie endlich bereit war, nicht nur innezuhalten, sondern auch weiterzugehen.

 

„Vielleicht,“ dachte sie, „ist Einhalt nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas Neuem."